Die Bindungstheorie ist nicht nur faszinierend, sondern sie gibt uns auch die Hoffnung, dass wir uns selbst, oder unseren Partner zumindest ein bisschen besser verstehen können.
Die meisten von uns haben auf die eine oder andere Art Beziehungsprobleme. Sei es mit dem Partner, oder mit der Familie, eventuell auch mit Freunden.
Deswegen ist die Bindungstheorie von John Bowlby ja auch so spannend, denn sobald wir sie entdeckt haben, wird unsere Bindungsstile alles erklären, warum wir so sind, wie wir sind, warum wir tun, was wir tun, und warum wir in sozialen Situationen vor bestimmten Herausforderungen stehen.
Ganz so funktioniert das leider nicht.
Auch wenn die Bindungstheorie unsere Verhaltensmuster weitgehend erklären kann, müssen wir vorsichtig sein, wie wir sie interpretieren. Das gilt besonders für intime bzw. romantische Beziehungen. Ich kann mich noch gut erinnern, als ich das erste Mal über die verschiedenen Bindungsstile gelesen habe und gedacht habe, dass ich das Universum entschlüsselt hätte. Es ist spannend und es gibt dir viel zu entdecken, aber glaub bitte nicht, dass man mit dem Bindungsstil auf einmal alles erklären könnte, denn so einfach ist es nicht.
Überschätzen deine Probleme nicht
Jeder hat Probleme in seiner Beziehung. Niemand ist perfekt. Auch die Lebensumstände von niemandem sind perfekt. In jeder Beziehung gibt es einen Punkt, an dem man mit dem Partner streitet, das ist einfach so.
Es wird immer Zeiten geben, in denen du dich unverstanden, nicht genügend gewürdigt, frustriert oder unglücklich fühlen wirst. Das bedeutet aber nicht, dass du eine Bindungsstörung oder ein Bindungsproblem hast. Im Übrigen bedeutet es auch nicht, dass dein Partner zwingend eine Bindungsstörung hat. Ich hab es schon öfter erlebt, dass die Bindungstypen als Ausrede genutzt werden, um dem Partner die Schuld an etwas zu geben.
Je nachdem, welche Befragung du als Grundlage nutzt, haben etwa die Hälfte bis ein Drittel aller Menschen eine unsichere Bindung. Du solltest also nicht davon ausgehen, dass du zu diesen Menschen gehörst. Außerdem ist man nicht der eine oder der andere Bindungstyp, es gibt viele Menschen, die z.B. grundsätzlich sicher binden, aber trotzdem Tendenzen zu einem der unsicheren Bindungsstile haben.
Deinen Eltern die Schuld geben
Auch wenn du leichte Bindungsprobleme bei dir feststellen solltest, gib nicht vorschnell deinen Eltern die Schuld daran. Denk daran, dass sich Bindungsstile in den ersten anderthalb Jahren des Lebens herausbilden. Wenn du auf deine Kindheit zurückblickst und versuchst herauszufinden, warum deine Eltern dich als Kleinkind vernachlässigt oder abgelehnt haben, wirst du nicht das bekommen, was du suchst.
Es ist schwierig zu sagen, dass deine Eltern schlecht oder schuldig an deinem Bindungsstil sind. Eltern wollen in der Regel das Beste für ihre Kinder. Und sie tun, was sie tun können, auch wenn es sicher Ausnahmen gibt.
Der Bindungsstil des Kindes hat nichts mit der Mutter oder dem Vater zu tun, sondern vielmehr mit der Qualität der Beziehungen, die sie zum Kind aufgebaut haben. Und die Qualität dieser Beziehungen beruht auf dem, was die Eltern geben bzw. ob das Kind spürt, was die Eltern geben.
Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Tatsache, dass du dir das Verhalten deiner Eltern vermutlich abgeschaut haben wirst. Wenn deine Eltern also abweisend oder ängstlich waren, dann werden sie dieses Verhalten vermutlich ungewollt an dich weitergegeben haben.
Die Tendenz, besorgt oder abweisend zu sein, bedeutet aber nicht zwingend, dass deine Eltern sich nicht gut um dich gekümmert haben oder dass deine Kindheit schlecht war.
Die Dinge in Schwarz-Weiß sehen
Wir Menschen sind nie nur auf einen Bindungsstil festgelegt. Jeder Mensch hat anhängig von der Beziehung, von sich und von seinem Partner immer Anteile aller Bindungstypen in sich.
Bei der ängstlichen und der vermeidenden Bindung geht es weniger darum, ob man sie hat oder nicht. Du kannst gerne ein bisschen besorgt sein. Du kannst auch gerne ein wenig abweisend sein, wenn du das gerade für dich brauchst. Man kann sicher gebunden sein und trotzdem einige Züge dieser unsicheren Merkmale haben.
Das ist wichtig zu verstehen, denn sonst geht es schnell, dass man jedes Verhalten, ob bei sich selbst oder beim Partner, mit dem Bindungstyp assoziiert wird und das solltest du unbedingt vermeiden.
Anderer Faktoren ignorieren
Es ist wichtig zu verstehen, dass Bindung eher intuitiv ist. Die Bindung entsteht, bevor ein Kind in der Lage ist, zu denken. Man könnte auch sagen, dass sie mehr gefühlt wird als alles andere. Alles, was nach dem dritten Lebensjahr geschieht, ist kognitiv, also basierend auf den Gedanken des Kindes. Alles, was davor liegt, ist eher ein inneres Gefühl.
Ein Mensch, der sehr besorgt oder abweisend ist, handelt in aller Regel auf der Basis von seinen Gefühlen, von denen er eventuell nicht einmal weiß, dass er sie hat.
Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch, dass z.B. ängstliches Verhalten nicht zwingend auf einen ängstlichen Bindungsstil zurückzuführen sein muss. Wenn deine Ängste weniger ein Gefühl sind, sondern auf realen Gedanken beruhen, dann kann der Grund woanders liegen.
Sich selbst oder andere in eine Schublade stecken
Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass es bei der Bindungstheorie darum geht, Menschen in vier Kategorien einzuteilen. Also eine für jeden Bindungsstil. Das ist auf keinen Fall das Ziel.
Die Klassifizierung der Bindungsstile ist in einem klinischen bzw. therapeutischen Umfeld entstanden. Außerhalb des Labors und bei der Behandlung besteht das Ziel der Therapie nicht darin, den Menschen in eine Schublade zu stecken.
Das Ziel ist viel mehr, die Gruppe von Verhaltensweisen zu identifizieren, an denen gearbeitet werden muss. Im Grunde ist eigentlich sogar egal, wie man es Ganze dann nennt. Bindung bzw. die Bindungstheorie erklärt die Art und Weise, wie du Schwierigkeiten in deiner Welt und besonders in deinen Beziehungen siehst und angehst.
Im Grunde lässt sich der Bindungsstil so ähnlich erklären, wie die Tierkreiszeichen. Klar findet man bei jedem irgendwelche Eigenschaften, die seinem Sternzeichen zugesprochen werden, aber es sind nie alle.
Nur auf das Negative achten
Es ist wichtig zu verstehen, dass Bindungsarbeit nichts Negatives ist, sondern etwas Positives. Ich durfte selbst erleben, wie viele positive Eigenschaften jemand mit einem vermeidenden Bindungsstil haben kann. Und selbst die negativen Eigenschaften, die mit dem Bindungsstil daher kommen, müssen nicht immer nur negativ sein.
Jemand, der sehr aufgrund seines ängstlichen Bindungsstils sehr anhänglich ist, ist zum Beispiel oft auch sehr fürsorglich und pflegend, und das sind positive Eigenschaften. Zu einem Problem werden die negativen Seiten des Bindungsstils erst, wenn sie überhandnehmen, sich negativ auf die Beziehung oder einen selbst auswirken.
Desorganisierte Bindung falsch verstehen
Wenn man sich die typischen Merkmale von ängstlich-vermeidender Bindung als desorganisierter Bindung anschaut, dann kann es gut und gerne sein, dass du einige Aspekte von beiden Bindungsstilen bei dir finden wirst.
Selbst wenn es so sein sollte, geh bitte nicht automatisch davon aus, dass du einen desorganisierten Bindungsstil hast, denn die Chancen stehen gut, dass es nicht so ist.
Desorganisierte Bindung ist eine Kombination aus dem ängstlichen und dem vermeidenden Bindungsstil. Tatsächlich ist der desorganisierte Bindungsstil nur selten anzutreffen und die Menschen mit diesem Bindungsstil haben oft sehr schlechte Beziehungen.
Bei Menschen mit desorganisierter Bindung ist außerdem die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie mit dem Gesetz in Konflikt kommen. Meist geben sie anderen die Schuld an ihrem Leben, ohne sich selbst Gedanken darüber zu machen, ob es auch zum Teil an ihnen liegen könnte. Häufiger Alkohol und oder Drogenkonsum ist ebenfalls möglich.
Desorganisierte Bindung kann ein ernstes Problem sein und eine therapeutische Behandlung erfordern. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass du diese Art von Bindungsstörung schon immer hattest und es nie jemandem in deinem Umfeld aufgefallen ist.
Während die anderen beiden unsicheren Bindungsstile (ängstlich und vermeidend) als Teil der Bindung bestehen können, gibt es bei einem desorganisierten Bindungsstil im Grunde keinen Spielraum, da er durch schweres Traum entsteht. In der Wissenschaft wird generell davon gesprochen, dass man nicht nur ein bisschen desorganisierte Bindung aufweisen kann.
Jeden diagnostizieren, den du kennst
Nur weil du viel gelesen hast und verstanden hast, was es mit den Bindungstypen auf sich hast, heißt das nicht, dass du Annahmen über die Bindungsstile aller Menschen in deinem Umfeld machen kannst. Es mag verlockend sein und es ist auch vollkommen in Ordnung, wenn du dir darüber Gedanken machst oder versuchst andere in deinem Kopf zu analysieren.
Aber!
Erwarte bitte nicht immer recht zu haben und erwarte auch nicht, dass andere dasselbe Interesse an diesen Dingen haben wie du. Wenn jemand aus deinem Umfeld offen für diese Themen ist, dann kannst du natürlich mit ihm oder ihr darüber sprechen. Unaufgeforderte Ratschläge oder Analysen gehen meist nach hinten los.
Unrealistische Erwartungen an die Heilung
Realistische Erwartungen sind extrem wichtig, wenn es um die Heilung von Bindungsproblemen geht. Denk bitte immer daran, dass die meisten Quellen wie Blogs, Internetseiten oder Videos zu diesem Thema Wissen anbieten, aber keine Behandlung.
Verständnis ist super und ein guter erster Schritt, aber es ist unrealistisch zu glauben, dass man durch das Lesen von Büchern oder Artikeln oder das Anschauen von YouTube-Videos alles herausfindet und einen unsicheren Bindungsstil heilen kann.
Die Wahrheit ist, dass man Wissen nicht durch eine Behandlung ersetzen kann. Es gibt leider keine schnelle Lösung, wenn es um die Heilung unsicherer Bindungen geht. Und noch viel wichtiger, es passiert sicher nicht durch passives Konsumieren von Inhalten. Seinen Bindungsstil zu verändern, ist viel Arbeit. Wobei sich Experten sicher sind, dass der ängstliche wie auch der vermeidende Bindungsstil “relativ” einfach zu behandeln sind.
Fazit
Die Bindungstheorie ist nicht so einfach, wie sie scheint. Auf den ersten Blick scheint sie recht einfach zu verstehen zu sein, aber sie in allen Facetten zu erfassen ist dann doch alles andere als leicht. Aber sie bietet unglaublich spannende Einblicke in die menschliche Entwicklung. Wichtig ist und bleibt, diese Erkenntnisse sorgfältig zu nutzen und immer zu hinterfragen, was man liest.